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Eine zerbrochene Welt heilen
Die Musik von Egon Lustgarten (1887 - 1961)

Von Alexis Rodda

Egon Lustgarten war ein Komponist, Musikkritiker und Theoretiker, der am 17. August 1887 in Wien geboren wurde. Er immatrikulierte sich 1905 an der k.k. Technischen Hochschule Wien, wo er Bauingenieurwesen studierte und Kurse in Mathematik, Geometrie und technischem Zeichnen belegte. Seine Frau Sophia erinnerte sich, dass Egon eine Begabung für viele naturwissenschaftliche Fächer zeigte und ein natürliches Talent für das Zeichnen und die Geografie zu haben schien; sie beobachtete zum Beispiel, dass er eine Karte aus dem Gedächtnis zeichnen konnte, nachdem er einen Ort nur einmal besucht hatte. Aber auch musikalisch war er schon als Kind sehr begabt; seine Frau Sophia schreibt, dass er schon früh in seiner Kindheit ein absolutes Gehör besaß und ihm die „falschen Töne“, die von den Drehorgelspielern auf den Straßen Wiens gespielt wurde, in den Ohren schmerzten.

Lustgarten als Student ca. 1905

Seine Eltern hofften, dass er eine Ausbildung zum Techniker machen oder in das Holzgeschäft seines Vaters einsteigen würde. Zum Leidwesen seiner Eltern zeigte er wenig Eignung für das Kaufmannsleben; seine wahre Leidenschaft galt der Musik. Tatsächlich schwänzte er oft den Ingenieurunterricht, um mit seinem Klassenkameraden Hugo Kauder in der kaiserlichen Hofbibliothek Partituren zu studieren. Seine Eltern erkannten sein natürliches musikalisches Talent und waren von seiner Hingabe an die Musik überzeugt, so dass sie nachgaben.
Lustgarten nahm zwei Jahre lang Privatunterricht, bevor er offiziell an der Wiener Musikakademie aufgenommen wurde, wo er bei Juliusz Wolfsohn und Richard Heuberger studierte. Lustgarten schrieb sich an der k.k. Akademie für Musik und darstellende Kunst ein, wo er sein Kompositionsstudium bei Richard Heuberger fortsetzte. Außerdem studierte er Dirigieren bei Franz Schalk, Dirigent an der Wiener Staatsoper. 1912 schloss Lustgarten sein Studium an der Wiener Musikakademie mit dem Diplom ab.

Egon Lustgartens Immatrikulationsausweis an der Universität Wien

Nachdem er während des Ersten Weltkriegs in der kaiserlichen Armee gedient hatte, wurde er 1921 Professor für Musiktheorie und Komposition am Neuen Wiener Konservatorium. In den Erinnerungen wird er als vertrauenswürdiger Lehrer und Berater bezeichnet, zu dem die Studenten kamen, wenn sie sich in schwierigen Situationen befanden. Manchmal setzte Lustgarten seine Treffen absichtlich um die Essenszeiten herum an, um sicherzustellen, dass es seinen finanziell weniger gut gestellten Studenten nicht an Essen mangelte. Seine Frau erinnerte sich, dass er manchmal Schwierigkeiten mit seinen Kollegen hatte, da er von bescheidener Natur war: „Von kleiner Statur und bescheidenem Wesen, konnte er sich nie gegen seine Kollegen durchsetzen…“
Er hatte eine Reihe prominenter Schüler, darunter Robert Schollum (dem es gelang, nach dem Zweiten Weltkrieg trotz seiner Beteiligung am Hitlerjugendchor und an der nationalsozialistischen Bewegung eine erfolgreiche Karriere in Österreich zu machen), Kurt Pahlen und Erwin Leuchter. Er wurde als beliebter Lehrer in Erinnerung behalten: Nach dem „Anschluss“ 1938 wurden er und viele andere Professoren aus ihren Ämtern entlassen. Einer seiner Studenten, Roger Derby, ein Amerikaner, verlangte die Rückerstattung seines Schulgeldes mit den Worten: „Ich bin gekommen, um bei Professor Egon Lustgarten zu studieren, bei keinem anderen.“ Der Wiener Musikkritiker Joseph Reitler schrieb über Lustgarten: „Er darf sich mit Stolz Lehrer und Führer einer ganzen Generation von Komponisten und Pädagogen nennen.“

Lustgarten in den frühen 1930er Jahren

Er wurde eingeladen, den Eröffnungsaufsatz über „Philosophie der Musik“ für die erste Ausgabe der Musikblätter des Anbruch einzureichen. Der Anbruch war eine angesehene musikwissenschaftliche Publikation, die für die Entwicklung der Neuen Musik in Wien wichtig war. Als immer mehr Komponisten der Wiener Musikszene aufgrund der zunehmenden politischen Spannungen, die durch die Repressionen des NS-Regimes hervorgerufen wurden, in die Emigration gehen mussten, verfiel die Zeitschrift und erschien zuletzt 1938. Vom Jahr der Erstveröffentlichung bis zu Lustgartens eigener erzwungener Emigration war Lustgarten ein häufiger und hoch angesehener Mitarbeiter von Der Anbruch und hatte Erfolg als prominenter Musiktheoretiker und -kritiker.
Er war auch ein produktiver Komponist. Er schrieb Kammermusik, Orchesterwerke, Kantaten, Chorwerke, Opern und Lieder. Er war Pianist und ein aktiver Interpret und Begleiter, aber er schien eine besondere Vorliebe für die Stimme und die Oper zu haben. Sein Verständnis für die Stimme mag sich aus seiner Rolle als Pianist und Korrepetitor ergeben haben; er arbeitete sogar mit der berühmten Wagner-Sopranistin Anna Bahr-Mildenburg in deren Schauspielschule zusammen. Nach seiner Emigration gab er bei der Auflistung seiner Qualifikationen und Berufswünsche ausdrücklich an, dass er mit Sängern arbeiten wollte.

Im August 1922 fand das Erste Internationale Kammermusikfestival in Salzburg statt. Egon Lustgarten (5. von rechts) ist hier zu sehen im Kreise seiner Kollegen (von links): Karl Weigl, Karl Alwin, Wilhelm Grosz, Artur Bliss, Paul Hindemith, Rudi Reti, Ethyl Smith, Paul A. Pisk, Willem Pijper, Egon Lustgarten, Egon Wellesz, Anton von Webern, Karl Horovitz, Hugo Kauder

(Foto: The Lahr von Leïtis Academy & Archive)

Seine Musik kam bei Kollegen und Kritikern gut an; in einer Rezension im Wiener Musikalischen Kurier hieß es: „In seinen Werken finden sich höchste Impulsivität und Fülle der Phantasie, gebändigt durch eine außerordentliche Konzentrationsfähigkeit, einen äußerst entschlossenen Sinn für Konstruktion und eine überlegene Beherrschung aller technischen Dinge.“ Eine seiner bedeutendsten Kompositionen war seine 1938 vollendete Oper Dante im Exil, die in diesem Jahr an der Wiener Staatsoper uraufgeführt werden sollte. Nachdem er die Partitur von Dante studiert hatte, erklärte der bekannte Dirigent Joseph Krips Lustgartens Oper zur „besten Oper des 20. Jahrhunderts“. Aufgrund des Anschlusses Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1938 wurde Dante im Exil nie an der Staatsoper uraufgeführt.
Lustgarten wurde in eine jüdische Familie hineingeboren, reichte aber 1925 offiziell seinen Austritt aus der jüdischen Gemeinde ein. Eleanor Paul, Lustgartens Tochter, schreibt über die Verbindung ihres Vaters zu seinem Glauben: „Er wurde in eine jüdische Familie hineingeboren, fand aber schon früh in seinem Leben zur Anthroposophie, der spirituellen Lehre von Dr. Rudolf Steiner, und damit zum Christentum.“
Die Nürnberger Rassengesetze, die 1935 von Nazi-Deutschland verabschiedet wurden, definierten einen Juden jedoch als: „Jemand, der von zwei jüdischen Eltern abstammt“, und als Österreich am 12. März 1938 von Nazi-Deutschland annektiert wurde, kam es schnell zu einer Eskalation der Gewalt gegen Juden in Form von Einschüchterung, Demütigung und Terrorisierung. Die Definition des Begriffs „Jude“ wurde am 20. Mai 1938 offiziell in Österreich eingeführt. Mit dieser Definition wurde Egon Lustgarten im nationalsozialistischen Deutschland rassisch als Jude eingestuft; das sollte sein gesamtes späteres Leben bestimmen.
Aufgrund des zunehmenden Drucks gegen Juden in Österreich im Dritten Reich verließ Lustgarten zusammen mit seiner Frau Sophie und seiner Tochter Eleanor am 22. August 1938 Österreich und emigrierte in die Vereinigten Staaten. Die Emigration bedeutete das Ende jeglicher beruflicher Erfolge, da er nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten weder als Komponist noch als Musikwissenschaftler Anerkennung fand.

Sophia Elisabeth und Egon Lustgarten in den 1950er Jahren auf Long Island

Obwohl Lustgarten nach seiner Emigration weiter komponierte – er führte 1945 sogar eine kleine semiprofessionelle Produktion seiner Oper Der blaue Berg auf – plagten ihn für den Rest seines Lebens finanzielle Schwierigkeiten, und nur wenige schienen sich für seine Kompositionen zu interessieren. Seine Musik war stark von spätromantischen Komponisten wie Brahms, Wagner und Schubert beeinflusst, und im Laufe der Kriegs- und Nachkriegsjahre war sein Musikstil aus der Mode gekommen. Seine kompositorische Stimme ähnelte weder dem Modernismus Schönbergs, noch hatte sie die mitreißende Qualität von Korngolds großen Hollywood-Partituren. Lustgarten komponierte nach seiner Emigration weiter fleißig und versuchte bis an sein Lebensende, seine Werke für mögliche Aufführungen oder Studien zu fördern. Gegen Ende seines Lebens kehrte er nach Europa zurück und unternahm einen letzten Versuch, seine Werke den Musikern und Dirigenten in Europa ans Herz zu legen. Aber Lustgarten, ein Produkt der Spätromantik, hatte in der neuen, ungewohnten Musiklandschaft keinen Erfolg. Trotz Lustgartens Unbeugsamkeit und Beharrlichkeit ist seine Musik heute vergessen. Der Großteil seines Nachlasses wurde zunächst in München / Deutschland aufbewahrt, nachdem seine verstorbene Tochter Eleanor G. Paul das Material dem Lahr von Leïtis Archiv vermacht hatte; inzwischen befindet sich das Archiv in Wien im Exil.arte Zentrum. Zeit ihres Lebens bemühte sich Eleanor Paul, die Musik ihres Vaters zu fördern, in der festen Überzeugung, dass sein Werk es wert sei, in der österreichischen wie auch in der amerikanischen Musikgeschichte einen größeren Platz einzunehmen.

Egon Lustgarten musiziert mit seiner Tochter Eleanor Paul

Lustgartens Musik ist in gewisser Weise ein Rätsel. Er experimentierte mit vielen musikalischen Stilen; seine Fähigkeit, diese verschiedenen Stile zu beherrschen, geht auf seinen „entschiedenen Sinn für Konstruktion“ zurück. Er beherrschte die eigentliche Kunst des Komponierens so gut, dass man ihm manchmal eine eigene kompositorische Stimme absprach. Ein Kritiker sagte über seine frühen Werke: „Wie aufrichtig sie auch sein mögen, es fehlte ihnen an kraftvollen Zügen oder auffallender Originalität.“
Rückblickend kann man sagen, dass es Lustgartens Musik nicht unbedingt an Originalität mangelte, dass sie aber im Kontext der von Arnold Schönberg eingeleiteten musikalischen Moderne vielleicht nicht als experimentell genug angesehen wurde. Seine frühen Werke sind eindeutig spätromantisch; Liebliche Harfen Lasset Erklingen ist ein schönes Beispiel für den romantischen Kompositionsstil. Am experimentellsten wurde er in der Mitte seiner Laufbahn, in den 1920er Jahren; das Japanische Liebeslied und der Liederzyklus Nachtgesichte veranschaulichen das Ausmaß seiner Experimentierfreudigkeit. Mit Dante im Exil findet er ein Gleichgewicht zwischen Modernismus und Romantik. Die Gesangsstimmen sind zwar tonal, verweben aber disparate Fragmente des thematischen Materials zu einfallsreichen melodischen Linien. Als er den Klavierauszug von Dante schrieb, schien Lustgarten auch die Möglichkeiten des modernen Orchesters vor Augen zu haben.
Nach seiner Emigration änderte sich sein Kompositionsstil. Der Blaue Berg ist ein hervorragendes Beispiel für seinen Stil nach der Emigration; im Allgemeinen ist die Gesangslinie einfacher gehalten, obwohl die Melodie immer noch in klanglich vieldeutiges Gebiet abschweift. Der Klavierpart hat die Last der musikalischen Komplexität im Gegensatz zu den einfacheren Gesangslinien. Ein virtuoser Pianist, wie Lustgarten selbst, ist erforderlich, um den Klavierauszug zu interpretieren, der anscheinend mit Blick auf eine orchestrale Wiedergabe geschrieben wurde.

Egon Lustgarten kurz nach seiner Ankunft in den USA

Durch den Zufall der Geschichte ist Lustgartens Musik in Vergessenheit geraten: Er war ein fester Bestandteil der ernsthaften Wiener Musikszene, bevor die Nazis mit ihrer Politik des Rassismus und der Gewalt seine fruchtbare Karriere unterbrachen. Lustgarten bewies selbst im Angesicht unvorstellbarer Herausforderungen unglaubliche Widerstandskraft und Ausdauer, aber seine Musik hatte aufgrund von Umständen, die sich seiner Kontrolle entzogen, nie die Chance, in die Geschichte einzugehen. Es ist wichtig, einen Präzedenzfall zu schaffen, um die Auslöschung von Komponisten und Künstlern wie Lustgarten rückgängig zu machen, zumal wir heute ähnliche Formen der Unterdrückung erleben. Wir müssen uns bewusst sein, was wir verlieren, wenn wir zulassen, dass der künstlerische Kanon von Hass und Rassismus kontrolliert wird. Seine Musik verdient einen Platz in der spätromantischen und frühmodernen Musikgeschichte.

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