Piscators Politisches Theater

Foto: Ruth und Hans Richter

Erwin Piscator (1893 – 1966) war ein Vollblut-Theatermann. Er hat das Theater revolutioniert. Für ihn war das Schauspiel nicht die Kunst des schönen Scheins, kein bloßes Entertainment. Die grausamen Front-Erfahrungen im 1. Weltkrieg hatten ihm die Augen geöffnet. Fortan wollte er den Menschen durch sein Theater die Augen öffnen: für die Missstände in Staat und Gesellschaft, für Ungerechtigkeit und Korruption im Wirtschaftssystem, für das Versagen der politischen und kirchlichen Eliten.

In der Weimarer Republik sollte sein politisches Theater das Publikum wachrütteln, zum selbständigen Mitdenken und kritischen Reflektieren anregen. Sein engagiertes Theater wollte die Bürgerinnen und Bürger ermutigen, die Verhältnisse zu verändern. Erfindungsreich bediente er sich aller Möglichkeiten der modernen Technik auf der Bühne: Laufbänder, mehrstöckige Spielgerüste, Dokumentar- und Spielfilme, eingeblendete Comics, aufregende Lichtführung und Geräuschkulissen. Vieles von dem, was wir heute im Theater für selbstverständlich erachten, hat Piscator erstmals ausprobiert und etabliert.

Piscator war nicht nur mit Leib und Seele Regisseur und Künstler, er war ein vorbildlicher Mensch in düsteren Zeiten: weder politische Verfolgung noch Not konnten den überzeugten Protestanten bremsen in seiner Leidenschaft für ein relevantes aktuelles Theater und für eine gerechte humane Gesellschaft. Vor den Nazis floh er nach New York, gründete dort den Dramatic Workshop und bildete eine ganze Generation berühmter Schauspieler aus, u.a. Marlon Brando, Judith Malina und Harry Belafonte. Bedrängt durch McCarthys antikommunistische Hetzjagd kehrte er 1951 in die junge Bundesrepublik zurück. In den 1960er Jahren stieß er mit seinen Uraufführungen – u.a. Rolf Hochhuths Der Stellvertreter über das Schweigen des Papstes zum Holocaust und Peter Weiss‘ Die Ermittlung über die Frankfurter Auschwitz-Prozesse – gesellschaftliche Debatten an.

Piscator sagte einmal: „Aus Mangel an Fantasie erleben die meisten Menschen nicht einmal ihr eigenes Leben, geschweige denn ihre Welt. Sonst müsste die Lektüre eines einzigen Zeitungsblattes genügen, um die Menschheit in Aufruhr zu bringen. Es sind also stärkere Mittel nötig. Eins davon ist das Theater.“

Politisches Theater in diesem Sinne dient als Weckruf, es ist ein Theater, das unsere Denkgewohnheiten, unser Reden und Urteil hinterfragt. Ein Theater, das die Manipulation anprangert, die um uns herum geschieht; ein Theater, das die strukturellen Schwächen unserer von Menschen gemachten Institutionen und Firmen offenlegt. Die Themen eines solchen politischen Theaters heute sind vielfältig: Sie reichen von sozialer Ungleichheit und Armut, über Rassismus und Bigotterie, bis hin zu Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen in tödlicher Geschwindigkeit und Klimawandel. Am Ende geht es um die Verfolgung eines einzigen Zieles: Der Respekt eines jeden von uns vor seinen Mitmenschen. Piscator fasste dies wunderbar zusammen, als er 1962 symbolisch die Schlüssel der Freien Volksbühne in Berlin erhielt: „Verherrlichen wir den Menschen! Flößen wir ihm das heiligste aller Gefühle ein: Ehrfurcht des Menschen vor dem Menschen! Dem gilt unser Streben. Das sei unser Ziel!“

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